Studie enthüllt: Über 5 Milliarden Menschen haben Nährstoffdefizite
Nährstoffmängel werden oft als ein Problem der Vergangenheit oder als spezifisches Phänomen von Entwicklungsländern betrachtet. Viele Menschen gehen davon aus, dass die moderne Ernährung uns mit allen essenziellen Nährstoffen ausreichend versorgt und Mängel daher kaum eine Rolle spielen. Diese Annahme ist jedoch trügerisch. In der heutigen globalisierten Welt, in der die Ernährung in vielen Ländern stark verarbeitet ist, kann es weiterhin zu Defiziten kommen – auch in industrialisierten Regionen. Eine neue, umfassende Studie, veröffentlicht im The Lancet Global Health (2024), beleuchtet diese Problematik und liefert ein differenziertes Bild, das bisherige Annahmen infrage stellt.
Die Studie mit dem Titel Global estimation of dietary micronutrient inadequacies: a modelling analysis analysierte erstmals die weltweite unzureichende Aufnahme von 15 essenziellen Mikronährstoffen auf Basis von Ernährungsdaten aus 185 Ländern. Dieses innovative Modell untersuchte verschiedene Alters- und Geschlechtsgruppen und schätzte, wie viele Menschen global von Mikronährstoffmängeln betroffen sind. Die Ergebnisse waren aufschlussreich: Mehr als 60% der Weltbevölkerung zeigen Mängel in verschiedenen, für die Gesundheit essenziellen Nährstoffen auf. Dabei besonders auffällig: Frauen sind häufiger betroffen als Männer!
Das Ergebnis im Detail
Bei Blick in die unten folgende Grafik wird im Detail ersichtlich, dass über 5 Milliarden Menschen weltweit von einer unzureichenden Aufnahme von Jod, Vitamin E und Kalzium betroffen sind, und etwa 4 Milliarden Menschen zu wenig Eisen, Vitamin C, Riboflavin und Folat konsumieren. Besonders Frauen sind von Mängeln an Eisen, Jod und Vitamin B12 betroffen, was auf spezifische Ernährungsgewohnheiten und physiologische Bedarfe zurückzuführen ist. So erhöht sich etwa der Eisenbedarf bei Frauen durch Menstruation und Schwangerschaft, was eine gezielte Zufuhr essenziell macht. Zusätzlich beeinflussen kulturelle und sozioökonomische Faktoren, wie Zugang zu bestimmten Nahrungsmitteln oder Präferenzen, die Ernährung. Bei Männern treten Defizite an Magnesium, Zink und Vitamin C häufiger auf, was unter anderem auf die spezifischen physiologischen Bedürfnisse zurückzuführen sein könnte. So haben Männer in der Regel einen höheren Bedarf an diesen Nährstoffen, da sie eine wichtige Rolle in Muskelaufbau, Testosteronproduktion und antioxidativen Prozessen spielen.
Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede unterstreichen die Notwendigkeit, Interventionen und Ernährungsempfehlungen gezielt an die jeweilige Bevölkerungsgruppe anzupassen. Ein weiterer wesentlicher Befund ist die regionale Verteilung der Mängel. Während Südasien und Subsahara-Afrika besonders stark von Kalzium-, Eisen- und Vitamin-A-Mangel betroffen sind, zeigen sich in Europa und Nordamerika weniger Defizite, was auf die bessere Versorgung und Anreicherung von Lebensmitteln hinweist (Dewey et al., 2024).
Ty Beal, leitender technischer Spezialist bei GAIN (Global Alliance for Improved Nutrition), betont in einer Pressemitteilung zur Veröffentlichung der Studie: „Diese Ergebnisse sind alarmierend. Die meisten Menschen – sogar mehr als bisher angenommen, in allen Regionen und Ländern aller Einkommensgruppen – konsumieren nicht genug von mehreren essenziellen Mikronährstoffen. Diese Lücken beeinträchtigen die Gesundheit und begrenzen das menschliche Potenzial auf globaler Ebene.“
Stärken & Schwächen der Studie
Die Methodik der Studie zeichnet sich durch eine neuartige Modellierung aus. Die Forscher nutzten die Global Dietary Database (GDD), um mediane Nährstoffaufnahmen zu ermitteln, und berücksichtigten Variabilitäten in den Ernährungsdaten, indem sie log-normale und gamma-verteilte statistische Modelle verwendeten.
Mit ihrer umfangreichen Datenabdeckung umfasst die Studie zudem nahezu die gesamte Weltbevölkerung und bietet eine Transparenz, die durch die Bereitstellung der zugrundeliegenden Daten und Codes für die Forschungsgemeinschaft untermauert wird. Besonders hervorzuheben ist, dass die Modellierung nach Geschlecht und Altersgruppen differenziert wurde, was wichtige geschlechtsspezifische und altersabhängige Einsichten ermöglicht. Diese Daten wurden dann mit alters- und geschlechtsspezifischen Referenzwerten abgeglichen, um unzureichende Aufnahmen zu schätzen.
Diese Methodik ermöglichte eine differenzierte und umfassende Schätzung der Nährstoffaufnahme weltweit.
Dennoch hat die Studie auch ihre methodischen Einschränkungen. Die Datenbasis, obwohl umfassend, enthält für viele Länder Lücken, was zu Unsicherheiten führen kann. Zudem wurden Supplementierungen und angereicherte Lebensmittel nicht berücksichtigt, was die Schätzungen von beispielsweise der Jodversorgung in bestimmten Ländern verzerren könnte. Eine weitere Einschränkung liegt in der Vernachlässigung von Nährstoff-Wechselwirkungen, die die Bioverfügbarkeit beeinflussen. So können beispielsweise Verbindungen wie Kalzium und Phytate die Absorption beeinflussen, was in der Schätzung unberücksichtigt bleibt. Ebenso können Lücken in den verfügbaren Ernährungsdaten, insbesondere in Ländern mit weniger gut dokumentierten Ernährungsgewohnheiten, die Schätzungen verfälschen. Dies bedeutet, dass die Ergebnisse zwar aufschlussreich sind, aber nicht als endgültige Aussage über die weltweite Versorgungssituation betrachtet werden sollten.
Eine erfahrungsmedizinische Perspektive
Die Ergebnisse der Studie aus The Lancet Global Health untermauern, was viele Health Professionals aus ihrem Praxisalltag bereits kennen: Selbst bei PatientInnen und KundInnen, die sich bewusst ernähren und auf eine ausgewogene, nährstoffreiche Kost achten, zeigen ganzheitliche Blutanalysen oft Mängel auf. Besonders Defizite an Magnesium, Ferritin und anderen essenziellen Mikronährstoffen treten immer wieder auf und sind häufig mit unspezifischen Symptomen wie Erschöpfung, verminderter Leistungsfähigkeit und erhöhter Stressanfälligkeit verbunden.
Erfahrungsmedizinische Ansätze betonen, dass nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der aufgenommenen Nährstoffe sowie individuelle Aufnahme- und Verwertungsstörungen berücksichtigt werden müssen. Faktoren wie eine unausgewogene Darmflora, Stress oder genetische Polymorphismen können die Absorption und den Stoffwechsel von Nährstoffen beeinflussen. In der Praxis zeigt sich, dass viele Menschen von einer gezielten Supplementierung und einer Anpassung der Ernährung profitieren, um die festgestellten Mängel zu beheben. Dies bestätigt die Bedeutung einer individualisierten Herangehensweise, die über allgemeine Ernährungsempfehlungen hinausgeht.
Praxisempfehlungen für Health Professionals
Doch was bedeutet das nun für die alltägliche Arbeit? Für Health Professionals, die eine evidenzbasierte Herangehensweise verfolgen, gibt diese Studie wichtige Impulse für die Praxis:
1. Bewusstsein schaffen: Auch in Ländern mit guter Versorgungslage ist ein Risiko für Mikronährstoffmängel vorhanden. Eine umfassende Ernährungsanamnese sollte daher routinemäßig erfolgen.
2. Individuelle Tests: Zur genauen Bestimmung von Nährstoffmängeln kann die Messung von Mikronährstoffen (im Vollblut) sinnvoll sein, um ein präzises Bild der individuellen Versorgungslage zu erhalten.
3. Gezielte Supplementierung: Bei festgestellten Defiziten sollte eine gezielte und bedarfsgerechte Supplementierung erfolgen, um die Nährstoffaufnahme zu optimieren, während parallel dazu versucht werden kann, eine verbesserte Nährstoffaufnahme durch die Ernährung zu erzielen.
4. Frauen im Fokus: Aufgrund der höheren Prävalenz bestimmter Nährstoffmängel bei Frauen sollten Health Professionals besondere Aufmerksamkeit auf geschlechtsspezifische Ernährungsbedürfnisse und -gewohnheiten legen.
Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen, dass Nährstoffmängel ein globales Problem darstellen, das sowohl in Entwicklungsländern als auch in industrialisierten Nationen präsent ist. Für Health Professionals ist es entscheidend, ein umfassendes Verständnis der Nährstoffversorgung ihrer PatientInnen und KundInnen zu entwickeln. Ein ganzheitlicher Ansatz, der die Ernährungsgewohnheiten, Labortests und mögliche Supplementierung einbezieht, kann dazu beitragen, Mängel zu erkennen und die Gesundheit nachhaltig zu fördern.
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Dewey, K. G., Wessells, K. R., Arnold, C. D., & Suri, D. J. (2024). Global estimation of dietary micronutrient inadequacies: A modelling analysis. The Lancet Global Health, 12(10), e1678–e1692. https://doi.org/10.1016/S2214-109X(24)00276-6